Prof. Dr.-Ing. Wolfgang Nebel,
OFFIS e.V. Institut für Informatik, Oldenburg
Die Ziele der Industrie 4.0 sind als Vision in den 17 Thesen des Wissenschaftlichen Beirats[1] der Plattform Industrie 4.0 gut zusammengefasst. Industrie 4.0 bietet dem Menschen in seinem Arbeitsumfeld neue Möglichkeiten zur Weiterentwicklung, zur Erweiterung seiner Handlungsspielräume und alterns- sowie altersgerechte Arbeitsbedingungen. Sie bietet den Unternehmen neue Chancen in neuen dynamischen Wertschöpfungsnetzwerken und Arbeitsteilungsmodellen. Und sie bietet spannende Herausforderungen für die Technik, insbesondere die IT.
Im Folgenden können lediglich einige Aspekte, Herausforderungen und Forderungen exemplarisch aufgeführt werden.
1. Das Produkt steht im Zentrum
Während in der Industrie 3.0 der zentral organisierte und gesteuerte Produktionsprozess im Zentrum steht, wird es in der Vision der Industrie 4.0 das Produkt sein. Es trägt das gesamte Wissen über seine Komponenten, deren Materialien, die einzelnen Fertigungsschritte, die Qualitätssicherung, den Vertriebsweg, die Wartung bis hin zur Wiederverwertung und Entsorgung in sich. Es kann somit quasi den Prozess der eigenen Entstehung mitbestimmen. Auch die Produktionsanlagen kennen ihre Fähigkeiten, ihren Betriebszustand, ihre Kapazität sowie Auftragslage und wissen, wann sie gewartet werden müssen. Gleiches gilt für die Logistik. Die Vision der Industrie 4.0 ist somit ein hochflexibles, weitestgehend autonomes, verteiltes Entwicklungs-, Produktions- und Logistiknetzwerk, welches sich selbständig durch Agentensysteme organisiert, überwacht und optimiert.
2. Komplexität
Um diese Vision zu realisieren, ist es notwendig, frühzeitig ein umfassendes Verständnis einer IT-Architektur der Industrie 4.0 zu entwickeln, in der die drei wesentlichen Dimensionen der Industrie 4.0 Wertschöpfung verortet sind:
- Lebenszyklus eines Produkts
- Produktionsabläufe im Unternehmen und in Kooperation mehrerer Unternehmen
- Diverse Sichten auf Produkt und Prozess, z.B. Geschäftssicht, Informationssicht, Kommunikationssicht
Dieser Anspruch an eine Referenzarchitektur zeigt deutlich zwei Herausforderungen an die Wirtschaft, Wissenschaft und die Politik:
- Systeme der Industrie 4.0 weisen eine völlig neue Komplexität auf. Die bisherige Orientierung an lokalen Parametern bei der Entscheidungsfindung war deshalb möglich, da der Einflussradius begrenzt ist und die Entscheidungen sich auf ein vergleichsweise statisch strukturiertes Umfeld beziehen. Dies ist bei Industrie 4.0 aufgrund ihrer Vernetzung, der Flexibilität und des Automatisierungsgrades nicht mehr ausreichend. Sie weist einerseits eine neue Dynamik und globale Auswirkungen auf, andererseits verfügt sie durch die Flexibilität über neue Selbstheilungsmechanismen. Diese neuen Konzepte müssen als Chancen nun in die Ausbildung und Qualifikation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einbezogen werden. Um den Bedarf an Ingenieuren zu decken, die Industrie 4.0 Produkte und Komponenten entwickeln sowie komplexe Anlagen konzipieren, in Betrieb nehmen und warten, ist auch auf akademischer Ebene der Bedarf an Studiengängen und –schwerpunkten im Fach Systems Engineering zu decken.
- Ein so komplexes System wie Industrie 4.0 bedarf eines weltweit einheitlichen Verständnisses seiner Bestandteile und Kommunikation. Dies erfordert Standards und Normen. Die Komponenten der Industrie 4.0 müssen Mindestanforderungen bezüglich der Einhaltung von Normen und Standards erfüllen. Um Investitionsschutz für eine möglichst schnelle Vermarktung erster Anwendungen zu ermöglichen, gilt es hier einen guten Kompromiss zwischen einem pragmatischen Vorgehen über ggfs. sogar proprietäre Industriestandards und einem sorgfältigen international unter Einbeziehung weiter Stakeholder-Kreise durchgeführten Normierungsvorgehen zu finden.
3. Technologien
Die wahrscheinlich gravierendste Änderung von Industrie 3.0 zu Industrie 4.0 ist die der Bedeutung der Daten und der Kommunikation. Daten werden an zahllosen Stellen erfasst werden: in den Produktionsmaschinen, am Produkt selber, in den Logistiknetzwerken, in der Infrastruktur und natürlich in den Geschäftsprozessen. Sie werden erfasst und meist dezentral vorverarbeitet. Dann werden sie kommuniziert und zur Entscheidungsfindung analysiert – ersteres in Echtzeit, oft drahtlos, auch in heterogenen Systemen und über Unternehmensgrenzen hinweg – letzteres auch zunehmend dezentral in Softwareagenten. Aus den Anwendungen folgen unmittelbar beispielsweise diese Anforderungen:
- Ausreichende Bandbreite für die Kommunikation
- Unterschiedliche Service Level im Netzwerk zur Garantie der Echtzeitanforderungen
- Neue kostengünstige robuste Sensoren mit niedriger Energieaufnahme
- Leistungselektronik für effiziente Aktoren
- Safety und Security
- Neue effiziente Techniken der Datenanalyse zur Entscheidungsunterstützung
4. Sicherheit
Mangelndes Vertrauen in die Sicherheit der Systeme der Industrie 4.0 ist vermutlich das größte Hemmnis für eine rasche Einführung dieses neuen Konzepts. Der Begriff Sicherheit muss in diesem Kontext aus unterschiedlichen, aber eng gekoppelten Perspektiven betrachtet werden, insbesondere:
- Funktionale Sicherheit
- Zuverlässigkeit und Verfügbarkeit
- Schutz gegen Sabotage
- Schutz gegen Diebstahl geistigen Eigentums
4.1. Funktionale Sicherheit
Die funktionale Sicherheit gewährleistet, dass ein System entsprechend seiner Spezifikation arbeitet und keine Gefährdung für Dritte darstellt. Klassische Systeme der Industrie 3.0, z.B. fahrerlose Transportsysteme oder Roboter, werden dann, wenn sie ein Gefahrenpotenzial z.B. für Menschen oder Güter darstellen, streng gekapselt, um die Personen aus dem Gefährdungsbereich fernzuhalten. In der Industrie 4.0 wird einerseits die Dichte dieser Systeme stark ansteigen.
Andererseits wird die unmittelbare Kooperation zwischen Mensch und Maschine von ihrer Art her intensiver werden und quantitativ deutlich zunehmen. Die hieraus resultierenden Sicherheitseigenschaften erfordern, dass der Sicherheitsgedanke noch stärker als bisher bereits in der Entwicklung der Systeme berücksichtigt wird (Safety by Design).
- Zuverlässigkeit und Verfügbarkeit
Die verteilte, vernetzte Struktur des Systems Industrie 4.0 bietet die gewünschte Flexibilität und das Potenzial einer optimierten Nutzung der investierten Anlagen. Hierdurch ergibt sich einerseits eine intrinsische Redundanz der Ressourcen, andererseits aber auch eine erhöhte Anfälligkeit bezüglich der Zuverlässigkeit und Verfügbarkeit dieser Ressourcen und der Kommunikationsinfrastruktur zwischen ihnen. In der Industrie 4.0 werden folglich Fragen der prospektiven Wartung und der Berücksichtigung von Alterung zur Erhöhung von Zuverlässigkeit und Verfügbarkeit einer besonderen Aufmerksamkeit bedürfen.
4.3. Schutz vor Sabotage
Cyber-physikalische-Systeme (CPS) bilden die Nervenenden des Systems Industrie 4.0. Sie beobachten ihre Umwelt, nehmen Messwerte auf, verarbeiten diese, kommunizieren, nehmen Befehle auf und setzen diese in physikalische Aktionen um. Durch ihre Anbindung an „das Netz“ sind sie bevorzugte Angriffspunkte für Cyber-Attacken.
Der Schutz vor Sabotage ist somit eine zentrale Anforderung an Industrie 4.0 Komponenten. Sabotage kann in diesem Kontext unterschiedliche Formen annehmen, z.B. als harmloseste Variante das Stilllegen von Anlagen oder die Veränderung ggfs. nicht offensichtlicher Produkteigenschaften – was zu Rückrufaktionen und Imageschaden führen kann – oder das Herbeiführen frühzeitigen Verschleißes, die Gefährdung von Personen, durch fremdgesteuerte Roboter, Brand, Chemie, etc., die Verfälschung der Kommunikation im Netzwerk, oder das Starten ungewünschter Aufträge.
Da diese Angriffe unmittelbare Auswirkungen auf die Funktionale Sicherheit, die Zuverlässigkeit und die Verfügbarkeit haben, sind auch diese Eigenschaften ohne Schutz vor Cyber-Attacken nicht zu gewährleisten.
4.4. Schutz gegen Diebstahl geistigen Eigentums
Gleiches gilt auch für den Schutz gegen Diebstahl geistigen Eigentums, der seitens der Unternehmen als ein besonders kritischer Aspekt gesehen wird. Wenn das „Produkt“ nach den Grundsätzen der Industrie 4.0 im Prinzip alles über sich , seine Materialien, seine Konstruktion, seine Fertigungsschritte, die Vermarktung, den Preis, die Wartung und sogar die Entsorgung weiß und zumindest punktuell mit Partnern des Wertschöpfungsnetzwerkes teilen muss (um die Vorteile der Industrie 4.0 zu nutzen), wie kann sich ein Unternehmen die Investitionen in die Erstellung dieses Wissens sichern? Hierfür sind angriffssichere Verfahren notwendig, insbesondere:
- Eindeutige Authentifizierung sicherer Kommunikationspartner – ich weiß, wem ich gerade vertraue,
- Kapselung der für den jeweiligen Teil und Aspekt eines Geschäftsprozess minimal notwendigen Information – ich sage Dir nur, was Du unbedingt zur Bearbeitung meines Auftrags wissen musst,
- Sicherung der Information gegen Abhören und Verfälschen im Speicher und in der Kommunikation,
- Erkennen gefälschter Anfragen.
In diesem Abschnitt konnten nur einige der die IT betreffenden Aspekte, Chancen und Risiken angerissen werden. Weiter und tiefer gehende Informationen wurden in der gemeinsam vom BitKOM, dem VDMA und dem ZVEI erstellten „Umsetzungsstrategie Industrie 4.0“[2] zusammengestellt.
[1] http://www.plattform-i40.de/downloads
[2] http://www.bmwi.de/BMWi/Redaktion/PDF/I/industrie-40-verbaendeplattform-bericht